Seine Majestät Kaiser Wilhelm II und martialische Wortwahl
Wenn man sich mit den Aufrufen und Reden zu Beginn des Ersten Weltkriegs beschäftigt, stößt man in Deutschland fast automatisch auf Kaiser Wilhelm II.
Seine Worte vom August 1914 gelten bis heute als Paradebeispiel für nationale Kriegspropaganda: Pathos, Berufung auf Gott, der Ruf nach Einheit und Opferbereitschaft.

Schnell entsteht dabei der Eindruck, Deutschland habe sich in besonderer Weise einer martialischen Sprache bedient.
Doch dieser Eindruck ist nur die halbe Wahrheit. Wer die französischen, britischen oder russischen Reden der gleichen Tage liest, findet dieselben Motive.
Die kritische Sichtweise wäre also: Wenn man nur die deutsche Propaganda liest, entsteht ein Zerrbild. Man übersieht, dass auch die anderen Nationen ihr Volk mit denselben Begriffen – Ehre, Opfer, Einheit, Pflicht, göttlicher Beistand – in den Krieg führten. Im Ergebnis standen sich nicht nur Armeen gegenüber, sondern auch Spiegelbilder rhetorischer Selbstinszenierung.
- Wilhelm II. sprach von einem Volk, das „lieber fallen [werde], als die Güter unseres Lebens und unserer Freiheit preiszugeben“ und schloss mit dem Ausruf „Das walte Gott!!“.
- Raymond Poincaré bzw. Premier Viviani beschworen fast zeitgleich die „heilige Einheit“ Frankreichs, die durch nichts zerbrochen werden dürfe, und endeten mit den Worten „Hoch die Herzen – es lebe Frankreich!“.
- Großbritannien rechtfertigte den Krieg mit der Pflicht, „die Verträge zu achten und die Freiheit kleiner Nationen zu sichern“. Russland wiederum erklärte, es handle im Namen „des slawischen Brudervolkes“ und unter dem „Schutz der göttlichen Vorsehung„.
Die Parallelen sind frappierend: Überall inszenierte man sich als Opfer, überall stilisierte man den Krieg zur gerechten Pflicht, überall versprach man die Verteidigung von Kultur, Recht oder Zivilisation.
Unterschiede im Tonfall gab es – der deutsche Kaiser sprach persönlicher, französische Politiker etwas staatsmännischer –, doch die Botschaft war gleich.
Dass in der deutschen Erinnerung meist nur die eigenen Texte kursieren, verzerrt den Blick. Es legt nahe, die deutsche Propaganda sei einzigartig gewesen, während man die internationale Rhetorik übersieht. Tatsächlich war 1914 ein Konzert der Stimmen – und alle spielten nach demselben Muster.