Stahren und Bromberg – Januar/Februar 1945
(Quelle: Die Große Not, Danzig-Westpreußen v. Hans Jürgen von Wilckens Seite 411)
In der Nacht zum 22. Januar 1945 erreichte uns der Räumungsbefehl. Stahren füllte sich fast gleichzeitig mit Flüchtlingen aus Bromberg; Hunderte stolperten in den Ort, mit kleinen Bündeln, bleichen Gesichtern, suchten ein Plätzchen auf Stroh oder blanken Dielen. Niemand schlief.
Man redete leise, als dürfe die Nacht nichts mehr hören, und wartete auf den Morgen, der uns fortschicken würde.
Als es hell wurde, begann die Flucht. Wagen wurden angespannt, Kinder hochgehoben, Kisten aufgeladen. Ich schloss mich einem Treck an, um Plätze zu sichern und für Lebensmittel zu sorgen; ein Teil der Familie – meine Eltern, Marion und Heini – blieb zunächst zurück.
Vater sagte, man solle nicht übereilt handeln. Er wollte sehen, ob die Front an uns vorbeiziehen würde. Ich ging schweren Herzens.
Später erfuhr ich, was in Stahren geschah. Am Sonntag, dem 28. Januar, kamen die ersten russischen Soldaten ins Dorf, blieben kurz und zogen weiter. Am Montag, dem 29., rückten weitere Einheiten ein. Mit ihnen kippte die Stimmung. Einige Polen fühlten sich nun als Befreite und fingen an, alte Rechnungen zu begleichen.
Man sprach in den Gassen, mein Vater sei ein „schlechter Pan“ gewesen – ein schlechter Herr, ein Gutsherr, der angeblich Unrecht getan habe. Ob Neid, Missgunst oder Rache dahinterstand, weiß ich nicht; die Worte genügten.
Zeugen erzählten mir später, wie Männer an unsere Haustür kamen, die Familie zusammentrieben und die Kellertreppe hinunterstießen. Oben stand ein Russe mit Maschinenpistole. Mutter hob den Kopf und sprach – das wurde mir wörtlich wiedergegeben –: „Herrgott, steh uns bei in unserer letzten Stunde.“
Dann ließ man, so die Berichte, die Polen aus dem Keller hinaus. Kurz darauf fielen Schüsse. Die Tat schrieb man der GPU zu, so nannte man bei uns pauschal die sowjetische Geheimpolizei, auch wenn sie 1945 formal anders hieß.
Die Leichen blieben im Keller, rechts neben der Küche. Ich war nicht dort; ich kenne den Raum, und doch sehe ich ihn seither nur noch so, wie die Männer ihn mir beschrieben haben.
Zur gleichen Zeit liefen Meldungen aus Bromberg ein, die ich erst Wochen später vollständig begriff. Dort waren vier Menschen in den Garten geschafft worden; binnen Minuten erloschen ihre Leben. Man sagte, wenigstens habe man sie nicht lange gequält. Sie blieben einige Tage im Freien liegen. In dieser Zeit zog ein Mann namens Saniec einem der Toten die Schuhe aus; einer der Grabskis zog Marion den Ring vom Finger.
Alma – so wurde mir berichtet – weinte, weil man das Klagen nicht mehr ertragen konnte. Der damalige Bürgermeister Nowaczek ordnete schließlich die Beerdigung an. Auf unserem Familienfriedhof bestattete man alle vier in einem gemeinsamen Grab.
So fügen sich meine Erinnerungen und die Aussagen derjenigen, die dabeistanden, zu einer Chronik ohne Trost: In Stahren traf die zweite Besetzung am 29. Januar 1945 ein, und Worte – „schlechter Pan“ – reichten, um den Weg in den Keller zu weisen. In Bromberg starben vier in einem Garten, und selbst dann riss man ihnen noch Schuhe und Schmuck ab.
Ich schreibe dies, um festzuhalten, was geschah, und um zu kennzeichnen, was ich selbst sah und was mir berichtet wurde. Mehr habe ich nicht – außer den Namen, den Tagen und dem Schweigen, das danach blieb.